Dieser Text ist das bearbeitete Manuskript einer kleinen Ansprache, die ich anlässlich der Eröffnung meiner Ausstellung "Spuren und Zeichen" gehalten habe. Dabei ging es mir, im Zusammenhang mit der Gründung der Galerie in der Glaubenskirche, meine Position zu skizzieren und zur Diskussion zu stellen.
Detlef Mittag, 2003
Anstelle einer Rede über mich oder meine Bilder möchte ich die Gelegenheit nutzen, Sie mit der Frage: Warum sollen in Kirchen Kunstausstellungen stattfinden? zu konfrontieren. Gestatten Sie mir, Ihnen dazu einige hoffentlich nicht zu polemische Gedanken vorzustellen.

Der Zugang zur Kunst und der Umgang mit ihr kann bekanntlich auf recht unterschiedliche Art und Weise erfolgen.

Erstens: Ein Zugang zur Kunst eröffnet sich vor allem bekennenden Kunstliebhabern oder Kunstkennern, ist also Anlass für eine eher esoterische Geselligkeit für Wissende, die sich bei entsprechenden Veranstaltungen geheimnisvoll zunicken, verstehend zusprechen, oder aber bedeutungsvoll anschweigen.
Zweitens: Der Zugang zur Kunst ist vor allem teuer und wertvoll, der Wert orientiert sich am Kaufpreis, an der Vermarktungsmöglichkeit und Verwertbarkeit. Dabei ist es relativ beliebig, ob diese Kunst im meist nur wenig besuchten Museum einer möglicherweise ansonsten völlig verarmten Kommune hängt oder im Safe eines millionenschweren Privatbesitzers vor anderen Menschen verschlossen wird.

Und nun, ich komme zu einer dritten Möglichkeit, die, Sie ahnen es schon, mir vorschwebt. Der Zugang zur Kunst durch die Musik, das Lied, den Tanz, das Wort oder eben auch das Bild ist vor allem erst einmal etwas, das zwischen Künstler und Publikum eine besondere Gestalt annimmt, im günstigsten Falle etwas für sie gemeinsam bedeutet und letztlich sie verbindet. Kunst in diesem Sinn eröffnet ein Versprechen zum Dialog, zur gegenseitigen Verständigung und vielleicht auch zur Verbundenheit.

Hier nun - spätestens - kommt für mich die Kirche als ein sehr bedeutsamer Ort ins Spiel. Ich spreche von der Kirche als Ort, weil ich damit tatsächlich den Raum meine, den man aus vielfältigsten Gründen betritt. Für frohe Christen ist dabei die Hemmschwelle oder Hürde - im allgemeinen - wohl eher niedrig, aber gerade für alle jene, die zweifeln oder zögern, oder gar Angst haben, eine Kirche zu betreten, sollten die Türen besonders weit geöffnet sein. Denn, wenn ich von Kirche spreche, stelle ich mir - wahrscheinlich wie die meisten unter uns -, eine frohe und offene Kirche vor, die ihren Platz in ihrer Gegend deutlich sichtbar und bewusst einnimmt, die sich nicht verschließt, sondern die alle Menschen - Christen wie Nichtchristen - einlädt zum gemeinsamen Verweilen, zum stillen Nachsinnen, zum aufmerksamen Hören und fröhlichen Singen oder auch zum wachen Schauen.

Ich denke also an eine Kirche, die dazu nicht nur aber eben auch die mannigfaltigen Möglichkeiten der Kunst zum miteinander Sein und zur sinnerfüllten Aufnahme von Wirklichkeit ohne elitärere und soziale Schranken nutzt.

Runter


Johannes an der Brust Christi
Detlef Mittag, 2009
Auf meinem Schreibtisch steht seit einiger Zeit ein kleines Bild mit einem mich sehr anrührenden Motiv. Ich sehe vor mir die Abbildung einer aus Holz geschnitzten Figurengruppe, zwei Menschen in inniger Haltung miteinander verbunden. Ein Knabe sitzt neben einem Mann, lehnt seinen Kopf stark gebeugt an die linke Brust des Älteren. Die rechte Hand des Knaben ruht in der rechten Hand des Mannes, dessen linker Arm die Schulter des Jungen umarmt. Während die Augen des Jungen geschlossen sind, scheint sich der Blick des Mannes irgendwo in der Ferne zu verlieren. Dieses Meisterwerk der Schnitzkunst wurde vor ungefähr 700 Jahren in Oberschwaben aus Eichenholz hergestellt und trägt heute den Titel „Johannes an der Brust Christi“. Die Szene ist aus der Bibel bekannt, beim Nachschlagen finde ich im Evangelium des Johannes den Satz: „Es war aber einer unter seinen Jüngern, den Jesus liebhatte, der lag bei Tisch an der Brust Jesu.“ (Joh. Ev., 13,23).

Ich gebe zu, dass mich dieser Satz zunächst auch etwas verunsicherte, als ich ihn las. Was bedeutet es, dass Jesus einen unter den Jüngern liebhatte? Hatte er nicht alle Jünger lieb, ja, hat Jesus uns Menschen nicht alle (gefälligst) lieb (zu haben)?

Während ich mich dies frage, betrachte ich noch einmal das Foto auf meinem Schreibtisch, und mir fällt eine andere Textstelle aus dem Evangelium nach Johannes ein: „...fürchtet euch nicht!“ (Joh. Ev., 6,20) Das ist es, was mich an dieser Situation so anrührt! Es geht um Jesus beim letzten Abendmahl, er weiß, was ihm bevorsteht, und spricht davon, dass einer unter den Jüngern ihn verraten wird. Aber da ist auch noch der andere, der, mit dem er sich in dieser Situation, in der sein Geist betrübt ist, besonders verbunden fühlen kann, der ihm vertraut und dem sich Jesus in seiner Betrübnis, seiner Furcht liebevoll zuwendet. Es ist eben nicht nur der Knabe, der getröstet werden will, sondern auch Gottes Sohn ist unter uns als Mensch einer, der Trost sucht und findet.Jesus erfährt von uns Menschen immer wieder beides: Verrat und Tröstung.

Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden“, und darum geht es für mich beim Anblick dieser Skulptur, einander beistehen, Gott und Mensch sind hier sinnbildlich vereint. Es sei daran erinnert, dass Jesus uns gebietet, wir sollen uns untereinander lieben, wie er uns liebt. (Joh. Ev., 15,12) Nur so lässt sich die Furcht wirklich ertragen und besiegen, die zuweilen unsere Gefühle und Gedanken wie ein dunkler Schatten begleitet. Jesus und Johannes machen es uns vor, setzen wir gegen Verrat, Lüge, Verleumdung, gegen Machtmissbrauch und Machtgier die gegenseitige Hilfe, die Solidarität mit dem, der uns tatsächlich braucht, wenn uns das gelingt, dann sind wir auf dem richtigen Weg, und dann können wir auch erleben, wie uns die Furcht verlässt.

Wer sich über die kunsthistorische Bedeutung und Deutung der Figurengruppe eingehender informieren will findet im soeben erschienenen Buch „Das Bode-Museum, 100 Meisterwerke“ auf Seite 80 einige Hinweise. Es sei auch noch hinzugefügt, dass das Original im Bode-Museum zu sehen ist (Ebene 1, Raum 106). Vielleicht haben Sie Lust bekommen dorthin zu gehen, und wer weiß, was Ihnen dann dazu einfällt?


Hoch

Runter


Unterwegs in einem der neuen Bilder von Wieland Zeitler.
Detlef Mittag, 2009

Spazieren gehen ist eine eher angenehme Tätigkeit, bei der wir uns Zeit lassen, uns entspannen, aber auch anregen lassen können. Von Wassily Kandinsky ist bekannt, dass er sich wünschte, das Publikum würde in seinen Bildern spazieren gehen.
Mit den folgenden Zeilen lade ich Sie ein, sich ein wenig Zeit für ein neues Bild von Wieland Zeitler zu nehmen. Allerdings sei vorab vor falschen Erwartungen gewarnt, es wird kein leichtfüßiges Schlendern auf vertrauten Wegen.
Vor uns sehen wir eine mit überwiegend geomorphen Formen bedeckte Fläche. Auf den ersten, schnellen Blick erkennen wir vermeintlich Felsen oder Gebirge, vielleicht erfassen wir auch Horizonte und vermutlich das Stück eines befremdlich gelben Himmels.

Aber sogleich fühlen wir uns unsicher, denn wir sehen zudem irritierende Geflechte von schwarzen Linien, die über die farbige Bildfläche gelegt wurden. Dies sind weder Umgrenzungen noch Sinn gebende Konturen, eher Spuren einer scheinbar fahrigen Bewegung, mit der auf dem zuvor gemalten Tableau eine zweite, sehr sporadische Oberfläche entworfen wurde.

Wir spüren, diese Bildlandschaft ist mehr als nur eine unwirkliche Kulisse unserer Fantasie, sie vereinigt in uns die Erinnerung an tatsächlich Gesehenes aus vielen Lebensjahren. Dabei bleibt ein unklarer Status, die anscheinende Unfertigkeit des Bildes nehmen wir vermutlich als Unvollkommenheit wahr und das verunsichert uns. Wir sind versucht, die Bildinhalte nach unserem Gusto, nach unserer Erfahrung und möglicherweise auch nach unseren Wünschen zu ergänzen, zu vervollkommnen.

Doch das Bild ist, wie es ist wir sind es, die aktiv werden und uns beim Betrachten auf Gewohntes einzustellen versuchen, immer um der Sicherheit willen, die wir - je nach dem - zur Orientierung und Klärung benötigen.

Unser Blick wird ruhiger, langsamer. Wir verweilen nun auf Teilen des Bildes, versuchen uns die Dinge zu veranschaulichen, erkennen vermeintlich Einzelheiten, Formen, die uns vertraut zu sein scheinen.

Das Weiß erinnert an schneebedeckte Bergspitzen, an Hänge und Hügel, und plötzlich wird es zu einem schäumenden Wasserfall, der in die Tiefe stürzt. Dann vermuten wir ein Tal, in dem es sich leben ließe. Aber sind das wirklich Häuser, die wir dort zu erkennen glauben, oder doch nur Felsen in einer unwirtlichen Umgebung?

Wir stehen im Grunde immer noch verwirrt vor dem Bild und wollen nun versuchen, das Liniengeflecht zu deuten.

Aber auch hier keine Hilfe, keine wirkliche Orientierung. Kein Faden, der uns durchs Labyrinth des Bildes führt, allenfalls können wir Spuren einer Bewegung erkennen. Wir merken, dass uns unsere Position vor dem Bild mehr verwirrt als erklärt. Vielleicht sollten wir versuchen, diese oberflächliche Verwirrung nicht als Barriere sondern als ein Angebot zum Mit- und Weiterdenken zu verstehen.

Dazu jedoch müssten wir versuchen, in das Bild einzutreten.

Aber das geht so einfach nicht. Wo treten wir ein, wo gibt es einen sinnvollen Zugang in dieses Bild, welche Perspektive lenkt uns hinein? Wir bemerken, das Bild hat keinen augenfälligen Eingang, wir erkennen, es ist uns nichts verschlossen. Wir können eintreten, wo und wie wir wollen, jedoch auf eigene Gefahr!

Wenn wir nun annehmen im Bild zu sein, irgendwo auf scheinbar halbwegs festem Grund, dann ist da kein Wegweiser, der zuverlässig Auskunft über Woher oder Wohin gibt. Wir befinden uns im Irgendwo, im Dazwischen, kein eindeutiger Horizont gibt Halt, keine Fläche ist wirklich vertraut, die anscheinend Sinn gebenden Farben signalisieren ebenso Nähe wie Ferne der Objekte, die wir wahrzunehmen glauben. Aus der vermeintlichen Landschaft ist ein Zwischenraum geworden, der zudem intensiviert wird durch das schwarze Liniengeflecht, das, sehen wir es vertikal, nun über uns zu schweben scheint.

Wie weitergehen?

Vielleicht erklärt sich uns das Bild, oder wenigstens sein Raum, wenn wir uns ihm aleatorisch nähern, also den gelenkten Zufall als handlungsbestimmendes Prinzip berücksichtigen.

Dann kann sich uns das vermeintliche Chaos als eine einzugrenzende Größe entschlüsseln lassen, die auf einen relativ klar umgrenzten und vorgedachten Bildraum verweist. Der gelenkte Zufall reflektiert das auf der Bildfläche entstandene, vorhandene Angebot an Fläche und Teilflächen. Dabei ist das Ganze ebenso bedeutsam wie seine einzelnen Bestandteile. Die kompositorischen Grundgedanken erschließen sich allerdings nicht als Entweder-oder-Entscheidungen sondern sind in der Organisation komplexer Spielanweisungen angelegt.

Der Bildraum ist nicht eindeutig und nachhaltig mit den tradierten Kompositionsgesetzen zu erfahren, es geht um ein abwechslungsreiches Zusammenspiel momentaner Ereignisse.

Im Hinblick auf diese momentanen Ereignisse kommen die Linien, die gleichsam über dem eigentlichen Bildraum zu schweben scheinen, ins Spiel. Nun geht es um die Zeit, besser um die in diesem Bild eingefangene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Dabei nutzen wir den geschichtstheoretisch begründeten Begriff hier nicht im Sinne von Bloch oder Wörner, sondern wollen damit versuchen, Momente und Abläufe der Bewegungen im Raum zu deuten.

Diese schwarzen Linien können als Spuren eines schnellen Blicks gedeutet werden, sie sind, wie schon erwähnt, keine Umgrenzungen, keine Umformungen, sondern führen ein substantielles Eigenleben, das auf ein schnelles Entstehen und Vergehen verweist, quasi das schnelle Bild über dem langsamen Bild, in dem die Räume und Teilräume eher auf Beständigkeit verweisen. Das Bild zeigt uns einerseits eine Gleichzeitigkeit von Grundfläche und Liniengefüge, verweist aber auch auf deren Ungleichzeitigkeit, die sich aus dem Gegensatz von langsamen und schnellen Blicken ergibt.

Dieses Bild spiegelt die Situation wider, in der wir uns befinden, wenn wir versuchen, die auf uns alltäglich einströmenden visuellen Impulse oder auch nur Reize im Sinne eines Verständnisses der uns umgebenden Wirklichkeiten möglichst eindeutig zu ordnen, zu klären. Wir können es verstehen als eine Übung im Loslassen von lieb gewordenen oder auch nur notwendig antrainierten Sehgewohnheiten, werden wir doch auch hier daran erinnert, dass nichts wirklich sicher ist, es seii denn das Nichts.

Hoch